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26.11.21

„Einen herzlichen Kuss gibt‘s noch u. ein bisschen gestreichelt wird‘s Kind noch und tausend Mal alles Gute gewünscht und Liebe gesagt und dann ist sie weg die
Tante Mieze“

Brief von Marie Bloch an Elly Knapp, 23.01.1908 (Familienarchiv Heuss/Basel)

Rostock d. 23.I.08
Bismarkstr. 1

Mein liebes Knäppchen - Vater sieht‘s ja nicht - heut zum Geburtstag kann ich Dich unmöglich anders anreden, sonst wird es unnatürlich u. ich komme nicht in den lieben, warmen Ton hinein, den der Geburtstagsbrief für mein Knäppchen doch durchaus haben muß!
[…]
Für die „Ueberraschung“ des Patria Aufsatzes noch vielen schönen Dank. Ich habe ihn - da ich augenblicklich hier in R[ostock] sehr viel in Armenpflegesachen „mache“ auch mit besonderm Interesse u. auch einigem Verständnis gelesen u. mich sehr darüber gefreut. Ich habe mein Exemplar sogar gleich unsrer „Sozial-Hilfsgruppe“ in der wandernden Lesemappe zur Kenntnis gebracht u. so wird sie „in weiteste Kreise“ dringen. Meine Freunde machen sich überhaupt sehr verdient für unsre Mappe - von Frau du Bois konnte ich auch schon einen sehr interessanten Aufsatz über: „Arbeitslose u. Obdachlose“ die den Inhalt des Buches v. einer Mary Higgs „Glympses into the abyss“ in Münsterbergs Zeitschrift f. Armenwesen wiedergab, beilegen.

Ich glaube, Sie würden sich sehr wundern, wenn Sie mich jetzt für so eifrig an social-theoretischer Tätigkeit sehen würden. Es ist mir aber sehr lieb, daß ich jetzt hier, heraus aus dem Gesetz u. Getriebe von Berlin etwas tiefer in diese Dinge, die mich ja immer interessiert haben, nun dringe. In Berlin konnte ich nur wirklich nicht auch noch in ungezählte Versamml[ungen] u. Vorträge rennen. Unsre Soc[iale] Hilfsgruppe hat hier schon jetzt eine Rechtsschutzstelle errichtet u. wir besichtigen Wohlfahrtsanstalten, hören Vorträge v. Anna Pappritz (Jugendfürsorge) u. Gräfin Gröben über „Gefallene Mädchen“ u. bilden uns „Sozial“ in jeglicher Beziehung. Scherz bei Seite - es geht ein sehr ernster Zug durch eine Gruppe Rostocker Frauen, die viel wollen u. opferwillig sind - die Gruppe ist vorläufig mir leider zu klein um viel leisten u. schaffen zu können. Aber ich hab mich sogar namhaft aufführen lassen als „Bereit eine Vormundschaft zu übernehmen“. Aber zur Armenpflegerin fühle ich mich nach wie vor unfähig u. weder für kirchliches noch kommunales noch politisches Stimmrecht bin ich mit Unterschrift zu haben. Aber hören u. lesen tue ich über all das hier viel viel mehr als in Berlin - Alimente sind augenblicklich mein täglich Brot! - u. auf alle Fälle kann mir das ja immer nur nützlich sein. - Private - einbringliche - Tätigkeit habe ich leider immer erst noch in Aussicht! Aber ich bin energisch gewesen u. habe einen 18 stünd[igen] Kursus f. Frauen u. j[unge] Mädchen über „Erziehung u. Beschäftig[ung] vorschulpflichtiger Kinder“ angesagt, den ich am 1. Febr. anfangen will. 5 Schülerinnen haben sich gemeldet (2 Fr[auen] 3 j[unge] Mädch.) hoffentlich werden es 10-12 mindestens, sonst lohnt es wieder nicht. Habe ich aber die, will ich ganz zufrieden sein u. mal drauflos reden - dem Mutigen gehört ja doch nur die Welt!
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Meine lieben netten Lindemanns in Altona besuchte ich bei der Gelegenheit auch wieder 1 1/2 Tage u. hatte es sehr gut bei ihnen. - Zurück nach R. mußte ich, weil Mariech[en] Hensel, die ich mir eingeladen hatte, kam, u. mit ihr hatte ich auch dann sehr behagliche 6 Tage. Pudel u. Erwin freundeten sich sehr mit ihr an. Adalbert - soit dit en parenthèse - war so eifersüchtig wie der Peterli im Heide u. erwartete mit Sehnsucht den Tag ihrer Abreise, wo er mich wieder für sich haben konnte. O dieser Bub! Ein Gemisch von Zartheit der Empfindung u. Grobheit, daß einen manchmal ganz angst wird. Aber liebe Kerls sind sie u. bleiben sie! Erfreulicher Weise hat Erwin jetzt seit Weihnachten seine ganz besonders nette „Tours“ - fleißig, freundlich u. immer guter Dinge! Wie unendlich viel macht das körperliche Befinden bei den meisten Kindern aus, ob sie leicht od[er] schwer zu behandeln, liebenswürdig od. unleidlich sind! Bei Erwin ist‘s das körperliche, bei Adalb. noch mehr das seelische Wohlbehagen, das ihn lieblich macht - am gleichmäßigsten ist eigentlich der Kleine - der, wenn er krank ist, so glücklich ist, nicht in die Schule zu müssen, daß ihn das wieder über alles körperl[iche] Unbehagen wegbringt. O dies Kind u. diese Schule - sie passen wahrhaftig nicht zusammen.
[…]
Nun aber Schluß - Sie haben noch mehr zu tun, als nur Tante Mieze‘s Ergüsse zu lesen. Wird diesmal Geburtstag mit Kränzchen gefeiert? Ich denke mir Marianne schickt diesmal nicht blos den Draht, sondern sorgt gleich für das fertige Kränzchen? Daß Sie in den Weihnachtsbesuch hinein, auf den Sie alle sich doch so gefreut hatten, Dienstboten-Misere hatten, tat mir schrecklich leid. Da mußte nun wohl die ganze Hauswirtsch[aft] Kraft eingesetzt werden um es den lieben Besuchern doch behaglich u. nett zu machen? O hätten Sie hier einmal zu dem Kinderjubel hineinblicken können! Haben Sie früher einmal eine Blochsche Weihnachtsstube gesehen? Das ist hier wirklich etwas ganz besonderes! Ich war ja auch vorher noch nie bei den Geschwistern zu Weihn[achten] gewesen, so war es auch mir etwas ganz neues: Komm ich schon wieder in‘s „tünen“ - nein, jetzt ist‘s energisch Schluß! - Einen herzlichen Kuß giebt‘s noch u. ein bischen gestreichelt wird‘s Kind noch u. tausend Mal alles Gute gewünscht u. Liebe gesagt und dann ist sie weg die
Tante Mieze
(Familienarchiv Heuss/Basel)

Brief von Marie Bloch an Elly Knapp, 23.01.1908 (Familienarchiv Heuss/Basel)

Mit “Tante Mieze” unterschreibt Marie Bloch, die diesen Geburtstagsbrief Ende Januar 1908 an ihre Freundin Elly Knapp schreibt. Einige Monate später wird Elly Knapp Theodor Heuss heiraten.
Marie Bloch schreibt aus Rostock an die zehn Jahre Jüngere im elsässichen Straßburg. Die beiden Frauen hatten sich kennengelernt als Elly Knapp während ihres Studiums in Berlin 1905 ein Zimmer suchte. Ein Bekannter an der Straßburger Universität, Dr. Hermann Reincke-Bloch, vermittelte ihr eine Unterkunft bei seiner ledigen Schwester Marie.
Marie oder “Mieze”, wie sie in der Familie genannt wurde, wohnte mit ihrem jüngsten Bruder Willy zusammen. Von den sieben Geschwistern Bloch waren sie die beiden letzten, die noch unverheiratet waren. Die Eltern hatten ihren Söhnen und den drei Töchtern alle Möglichkeiten, sich auszubilden und selbst ihr Leben zu bestimmen, geboten.

 

stehend: die Geschwister Willy, Marie, Albert mit seiner Verlobten
sitzend: die Eltern Adalbert und Clara Bloch mit der Tochter Betty, 1893 (Familienarchiv)

Marie besuchte nach dem Abschluss einer Höheren Töchterschule das von Helene Lange geleitete Lehrerinnenseminar einer Privatschule. Danach unterrichtete sie an derselben Schule Mathematik und Englisch. Am Pestalozzi-Fröbel-Haus in Berlin-Schöneberg schloss sie 1893 ihre berufliche Ausbildung mit einem Kindergärtnerinnen-Seminar ab. In den folgenden Jahren unterrichtete sie am Pestalozzi-Fröbel-Haus, leitete kleinere und größere Kindergartenbetriebe und Volkskindergärten.

1908 ist Marie Bloch seit gut einem Jahr in Rostock bei ihrem ältesten Bruder Hermann und seiner Familie. Ihr Bruder erhielt 1904 die Professur für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität. Sie hatte geplant, ihrer Schwägerin bei der Erziehung und Betreuung der Söhne Adalbert, Erwin und dem “Kleinen”, dem 8jährigen Reinhold zur Hand zu gehen. Doch merkt sie bald, dass die Schwägerin keine Hilfe benötigt. Sie engagiert sich mehr und mehr im Rostocker Frauenverein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, jungen Mädchen eine gute Ausbildung zu verschaffen und Frauen in Arbeit zu vermitteln.

Rostocker Zeitung, 08.06.1914

1910 gründen der Marien-Frauenverein, der Hausfrauenverein und der Rostocker Frauenverein eine Soziale Frauenschule, an der auch Marie Bloch einige Stunden Pädagogik unterrichtet. Dort werden Frauen zu Jugendfürsorgerinnen, Jugendpflegerinnen, Polizeiassistentinnen, Gefängnisbeamtinnen, Leiterinnen von Heimen und Stellenvermittlungen ausgebildet. 1919 wird die Schule staatlich anerkannt.
Marie Bloch erkennt, dass sie mit ihrer Ausbildung am Pestalozzi-Fröbel-Haus, jungen Mädchen neue Berufsmöglichkeiten aufzeigen kann. Nach einer Weiterbildung an der gerade von Alice Salomon in Berlin gegründeten Sozialen Frauenschule, eröffnet sie 1910 – sie ist 39 Jahre - ihre Kinderpflegerinnen-Schule mit angeschlossenem Privatkindergarten in der Paulstraße 5.

Rostocker Anzeiger, 04.09.1929

In den folgenden 25 Jahren wird sie etwa 300 Mädchen zu Kinderpflegerinnen ausbilden. Nach der Ausbildung war es ihnen möglich in Kindergärten und Horten, Waisenhäusern, in Familien oder in der städtischen Kinderfürsorge zu arbeiten.
Nach dem Ersten Weltkrieg führt Marie Bloch – neben ihrer Schule und dem Kindergarten – als Oberleiterin der städtischen Kinderfürsorge die zuvor von Vereinen geleiteten Betreuungseinrichtungen für Kinder in die städtische Verwaltung über. In den fünf Jahren ihrer Tätigkeit war sie ständig für 450 Kinder und 18 Angestellte in den Volkskindergärten in der Ottostraße, Bussebart, Blücherstraße und Bei dem Waisenhaus sowie den Horten in der Otto- und Blücherstraße verantwortlich.
Sie kümmert und sorgt sich nicht nur um die Kindergartenkinder, die Nichten und Neffen, sondern auch um die Patentochter, die im Brief erwähnte “Mariechen” Marie Hensel, und ihre “Enkelin” Hendrikje. In den 1920er Jahren adoptierte Marie deren Mutter Margarete Steiner, eine Studentin, die bei ihr in der Paulstraße ein Zimmer gemietet hatte.

1933 ändert sich für Marie Bloch alles. Sie darf keine neuen Schülerinnen aufnehmen. Sie darf Schule und Kindergarten nicht mehr leiten. Die Nürnberger Rassegesetze von 1935 bestimmen, dass sie Jüdin ist, da drei ihrer Großeltern jüdisch waren. Marie Bloch, die seit ihrer Geburt getauft war und den christlich-evangelischen Glauben lebte, hat nun die antijüdischen Gesetze der Nationalsozialisten zu befolgen.
Sie wird im November 1942 von Rostock in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Dort stirbt sie im April 1944 im Alter von 72 Jahren.

Ihr Geburtstag am 27. November 1871 jährt sich in diesem Jahr zum 150. Mal.